Sebastian Dittrich Kondolenzblog

Presseecho

„gib mal ein Lebenszeichen, falls du lebst“

Sebastian Dittrich war ein lebensfroher junger Wissenschaftler. Sein plötzlicher Tod lässt Freunde und Angehörige rätseln: Wer war er wirklich? Von  * Andreas Kopietz

Berliner Zeitung Archiv » 2008 » 18. Oktober » Magazin

Das letzte Lebenszeichen von Sebastian Dittrich kam am 1. Januar dieses Jahres um 17.13 Uhr. Damals saß der 26-jährige Politikwissenschaftler in seiner Wohnung am Computer und chattete mit einem Bekannten. Um ein Video aus dem Internet ging es, das er sich ansehen wollte, ein Interview mit einem rechtsradikalen Esoteriker. Dann brach die Verbindung ab. Zwei Tage später öffneten Feuerwehrleute und Polizisten die Tür zu Dittrichs Spandauer Wohnung und fanden ihn erhängt.

Für die Polizei war der Fall schnell klar: ein Suizid, einer von vielen. 10 000 Menschen bringen sich jedes Jahr in Deutschland um, allein in Berlin waren es 2007 128 Frauen und 305 Männer. Die meisten erhängen oder strangulieren sich wie Sebastian Dittrich, und auch sonst passte er gut in die Statistik. Die Gruppe der 25- bis 30-Jährigen gehört nach den 40- bis 45-Jährigen zu den am meisten Suizid-Gefährdeten. Oft sind es hochintelligente und sensible Menschen, die mit dem Leben nicht mehr klarkommen. „Unnatürlicher Tod“ schrieb die Polizei in ihre Anzeige. Sebastian Dittrich wurde zum Vorgang Nummer 080103-1700-025484 erklärt. Keine weiteren Ermittlungen nötig.

Für Sebastian Dittrichs Angehörige und Freunde aber ist sein Freitod ein Rätsel. Eine Todesursache, die so gar nicht zu dem Menschen passen will, den sie kannten. Der ein vielversprechender Nachwuchswissenschaftler war, erfolgreich, mit großen Plänen. Der gute Freunde hatte und ein enges Verhältnis zu seiner Familie. Sebastian Dittrich hat sich von niemandem verabschiedet, mit niemandem über seine Absicht geredet. Es gibt keinen Abschiedsbrief, nichts, was das Unerklärliche erklären könnte.

Ein paar Tage vor seinem Tod erst war ihm ein Promotionsstipendium zugesagt worden. „Damit guckt es sich gleich viel entspannter in die Welt“, mailte er Weihnachten 2007 einem Freund. „Zu tun habe ich jetzt genug – viele interessante Artikel, dann und wann auch Vorträge. So darf es ruhig weitergehen.“ Er war ein fröhlicher Mensch, glücklich und zufrieden, sagt seine Mutter. „Er hat mir immer gesagt, was ihn bedrückt. Alle Umstände sprechen dagegen, dass er sich erhängt hat.“

„Es gab bei Sebastian nicht den geringsten Hinweis, dass irgendwas nicht in Ordnung ist“, sagt auch Marco Dittrich, sein sieben Jahre älterer Bruder. „Wir laufen immer nur im Kreis und fragen uns: Warum – weshalb so plötzlich?“

Auf den Fotos, die es von Sebastian Dittrich gibt, sind die braunen Augen hinter der ovalen Brille ins Ferne gerichtet. Ein Kinnbärtchen sollte seinen zarten, kindlichen Gesichtszügen etwas Mannhaftes verleihen. Der 1,97 Meter große Junge bewegte sich manchmal etwas linkisch, sagen einige. Er hatte einen schiebenden Gang. Besonders sportlich war er nicht. Er recherchierte lieber am Computer und las viel. Mit zwölf schon Karl Marx, sagt sein Bruder. „Er war seinem Alter immer voraus.“

Sebastian wurde 1981 geboren und wuchs in einer Plattenbauwohnung in der Marzahner Bärensteinstraße auf. Er war ein guter Schüler, im Jahr 2000 machte er an der Marzahner Karl-Schiller-Oberschule sein Abitur. In dem Jahr kaufte seine Mutter am Spandauer Askanierring eine zweieinhalb Zimmer große Eigentumswohnung und beide zogen dort ein. Sein Vater war 1999 gestorben.

An der Universität Potsdam studierte Sebastian Politikwissenschaft und schrieb seine Diplomarbeit über „Nationalrevolutionäre Tendenzen in linksextremen Gruppierungen“. Zuletzt war er wissenschaftliche Hilfskraft an der Uni. Er schrieb Artikel für das Jahrbuch „Extremismus und Demokratie“, und für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung plante er eine Veröffentlichung über „Rechte Leute von Links“ und maoistische K-Gruppen im Kampf um die „nationale Befreiung“ Deutschlands.

Sebastian Dittrich war ein Ruheloser.

Neben seinem Job engagierte er sich im Arbeitskreis Rechtsextremismus der SPD, arbeitete bei der Internetplattform „Blick nach Rechts“ und war außerdem im Spandauer Bündnis gegen Rechts aktiv. Mit erst 26 Jahren schrieb er an seiner Doktorarbeit zum Thema Rechtsextremismus.

Professor Eckhard Jesse von der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz, wo Dittrich 2004 ein Praktikum absolviert hatte, schrieb ein euphorisches Gutachten für Sebastians Aufnahme in die Promotionsförderung der Friedrich-Ebert-Stiftung. „Ich war von ihm in jeder Hinsicht überzeugt, als Wissenschaftler und auch als Mensch. Er war ein ungewöhnlicher Doktorand, er gehörte zu unseren Besten“, sagt der Professor. „Er war sehr freundlich, für sein Alter sehr reif und ausgeglichen.“ Jesse beschreibt seinen Praktikanten als Perfektionisten, der immer alles ganz genau und akribisch machen wollte. „Er interessierte sich für die kleinsten links- und rechtsextremistischen Gruppierungen. Ich habe keinen jungen Menschen erlebt, der sich so gut auskannte bis in die kleinsten Verästelungen.“

Nach Sebastians Tod kam seinen Hinterbliebenen der Gedanke, er sei mit seinen Recherchen jemandem unbequem geworden. „Es war leichtsinnig von ihm, dass er sich die ganze Post nach Hause schicken ließ“, sagt sein älterer Bruder. Seine Mutter erzählt, Sebastian habe ihr wenige Tage vor seinem Tod anvertraut, dass er bei seinen Recherchen auf etwas gestoßen sei und bedauere, so unvorsichtig gewesen zu sein. Professor Jesse glaubt nicht daran, dass Sebastian umgebracht wurde. „Trotzdem ist sein Tod für mich ein Rätsel“, sagt er. „Er wirkte wie jemand ohne Probleme.“

Gabriele Dittrich geht es genauso. Sie war sich lange sicher, dass sie alles über ihren Sohn wusste. Ihr Verhältnis war fast symbiotischer Art. In Berlin haben sie eine Wohnung geteilt. Sind zusammen in den Urlaub gefahren. Haben gemeinsam einen Tanzkurs besucht. Sebastian hat ihr erklärt, wie man mit dem Computer umgeht. Sie hat ihm Kochen beigebracht. Vor Weihnachten waren sie mit dem Regionalzug zu Sebastians großem Bruder nach Plön gefahren. Vier Stunden hin und vier zurück. Sie hatten viel Zeit zum Reden. „Es gab keine Anhaltspunkte, dass er irgendwelche Probleme hatte“, sagt Gabriele Dittrich.

Sie ist eine kleine Frau mit ovaler randloser Brille. Noch viele Monate nach dem Tod ihres Sohnes sind die Tränendrüsen unter ihren Augen geschwollen. In einem Restaurant am Berliner Hauptbahnhof nippt sie an einem Cappuccino. Sie ist nach Berlin gekommen, um Abschied zu nehmen. Sie kann hier nicht mehr leben, sagt sie. Die gemeinsame Wohnung am Askanierring hat sie vermietet.

Weihnachten verbrachte Sebastian Dittrich mit seiner Mutter bei seinem älteren Bruder und dessen Familie im Landkreis Plön in Norddeutschland. Nach den Feiertagen fuhr seine Mutter nach Leipzig zurück, wo sie als Personalchefin bei einem Bildungsträger arbeitete. Sebastian blieb in Berlin. Silvester feierte er bei zwei Bekannten in einer Wohnung in Kreuzberg. Die Wohnungsinhaberin sagte bei der Polizei aus, er habe „sehr gute Laune“ gehabt. Er war mit Karl (Name geändert) dort, einem 22-jährigen guten Freund, der Politik studiert. Karl ist der letzte Freund, der ihn am Neujahrstag lebend gesehen hat. „Wir sind gemeinsam gegangen, so gegen drei Uhr“, erinnert er sich. „Am U-Bahnhof Mehringdamm haben wir uns dann getrennt. Er hat vielleicht einen Sekt getrunken. Sebastian trank kaum Alkohol. Auch Drogen waren ihm nichts.“

Das toxikologische Gutachten der Gerichtsmedizin bestätigt das. Sebastian Dittrich stand zur Zeit seines Ablebens weder unter Alkohol- noch unter anderem Drogeneinfluss.

Sebastian Dittrichs letztes Lebenszeichen von 17.13 Uhr findet sich im Chatprotokoll auf seinem Computer. Seinem Gesprächspartner schrieb er, dass er die Filmdatei aus dem Internet nicht öffnen könne: „kann ihn noch nicht angucken, musste ihn erstmal speichern:-( hier bimmelt leider immerzu das telefon“.

Auf dem Anrufbeantworter waren danach mehrere Anrufe gespeichert, die Sebastian zu dieser Zeit hatte – doch niemand war am anderen Ende. Danach sind im Computer nur noch eingehende Nachrichten verzeichnet, wie etwa jene von 23.49 Uhr, als ihm ein Bekannter schrieb: „gib mal ein lebenszeichen, falls du lebst ;)“. Da war Sebastian Dittrich wahrscheinlich schon tot.

Zu dieser Zeit hat ein anderer Kumpel in Prenzlauer Berg das lange Warten satt. Der Politikstudent war mit ihm für 19 Uhr in einer Kneipe in Prenzlauer Berg verabredet. Nie hätte Sebastian jemanden sitzen lassen, meint der Kumpel, der mit einigen Leuten in der Kneipe auf Sebastian wartet. Nach einer Stunde wird er ungeduldig und ruft an. Doch Dittrich geht nicht ans Telefon. Am nächsten Tag geht der Kumpel zur Polizei und sagt, dass seinem Bekannten etwas passiert sein müsse. Auch Sebastians Bruder Marco in Norddeutschland ist beunruhigt, weil besorgte Freunde bei ihm nachfragen. Am 3. Januar alarmiert er im Kreis Plön ebenfalls die Polizei.

An jenem Tag, um 14.44 Uhr, bekommt eine Funkstreife des Polizeiabschnitts 21 in Berlin den Auftrag, an der Wohnung nachzuschauen. Auf das Klingeln der Beamten öffnet niemand. Sie rufen die Feuerwehr hinzu, die mit einem Sperrhaken um 15.32 Uhr die Wohnungstür öffnet. In der Wohnung brennt Licht. Sebastian Dittrich hängt – Gesicht zur Wand, die Knie einige Zentimeter über dem Boden – mit einem Schal im Bad an einem zwei Meter hohen Handtuchheizkörper. Zwischen seinen Füßen ist der Badläufer eingeklemmt. Der Tote hat noch die Brille auf.

Als die Polizisten den Toten finden, ist Sebastians Mutter mit dem Zug aus Leipzig zu ihm unterwegs. Seit Neujahr hat sie nichts von ihm gehört und auch sie hat deshalb bei der Polizei angerufen. Auch ihr Bruder aus Brandenburg, Sebastians Onkel, den sie informiert hat, ist auf dem Weg. Er trifft kurz nach der Polizei am Askanierring in Spandau ein. Als die Mutter das Haus erreicht, sieht sie davor einen grünen Transporter mit der Aufschrift „Gerichtsmedizin“. Sie rennt die Treppe hoch, zwei Männer mit einer Bahre schieben sich an ihr vorbei. Auf der Bahre liegt ein langer Plastiksack. Gabriele Dittrich schreit nur noch. Ihr Bruder nimmt sie zur Seite.

„Ich habe Sebastian nicht mehr gesehen. Ich glaube, ich wollte ihn nicht sehen“, erinnert sie sich.

Ein Abschiedsbrief wurde nicht gefunden. Seine Mutter versteht das nicht. Sie glaubt, dass er sie nie absichtlich im Unklaren gelassen hätte. Ein Jahr vor seinem Tod hatte sich der Sohn einer Bekannten umgebracht, ohne eine Begründung zu hinterlassen. „Man muss doch wenigstens einen Abschiedsbrief schreiben, weil man seine Verwandten und Freunde doch nicht ratlos zurücklassen kann“, hatte sich Sebastian damals empört.

Gabriele Dittrich hat dem Beamten, der die Ermittlungen führt, einen Brief geschrieben, in dem sie Punkte auflistet, die nach ihrer Ansicht gegen die Suizid-Variante der Behörden sprechen. Wo beispielsweise sind die schwarzen USB-Sticks, von denen Sebastian immer einen am Schlüsselbund hatte und zwei auf seinem Schreibtisch. Warum war nach Sebastians Tod ein paar Mal das Namensschild unten an der Klingel mit Farbe zugeschmiert? Und warum hat seit kurz nach Weihnachten der Lautsprecher in Sebastians Festnetztelefon nicht richtig funktioniert, war aber komischerweise seit dem 3. Januar wieder komplett störungsfrei?

Dem Onkel, der selber in Brandenburg Polizist ist, kommt es seltsam vor, dass sich sein Neffe mit dem Gesicht zur Heizung erhängt haben soll. „Ich habe schon viele Erhängte gesehen“, sagt er. „Aber niemand von denen hat seine Brille aufbehalten.“ Er glaubt noch eine weitere Merkwürdigkeit entdeckt zu haben: „Als mein Neffe gefunden wurde, war in seinem Arbeitszimmer der Teppich ein Stück zurückgeschlagen. Die Polizei hat es nicht getan.“ Hat jemand, nachdem er Sebastian erdrosselte, den Teppich zurückgeschlagen, um die Leiche des 85-Kilo-Mannes auf dem Schreibtischstuhl zum Bad zu fahren?

Und noch eine Frage ist unbeantwortet: Sebastians neues Telefon lag eingeschaltet unter dem Schreibtisch. Warum hob er es nicht auf? „Die Polizisten haben nicht mal das Handy mitgenommen und sich auch nicht den PC angesehen“, sagt der Onkel.

Er ärgert sich, „wie lässig“ seine Berliner Kollegen mit dem Fall umgegangen seien. „Die hatten überhaupt nichts dagegen, dass wir in die Wohnung gingen und dass meine Schwester sogar über Nacht bleiben durfte. Wenn es relevante Spuren gab, dann wurden sie mit Sicherheit vernichtet.“ Auch Sebastians Bruder Marco kann die Arbeit der Polizei nicht nachvollziehen. „Als ich an der Wohnung ankam, rechnete ich damit, dass dort alles versiegelt wäre und unsere Mutter bei der Polizei sei. Stattdessen räumte sie die Wohnung auf. Sie war lediglich gebeten worden, nicht in Sebastians Arbeitszimmer zu gehen.“

Erst am 9. Januar kam die Spurensicherung des Landeskriminalamtes und nahm in den Räumen Fingerabdrücke und DNA. In einem schriftlichen Vermerk muss der ermittelnde Kriminalbeamte einräumen: „Außer im Arbeitszimmer des S. Dittrich wurden mögliche Spuren durch den Aufenthalt der Mutter Frau Dittrich und des Bruders Marco Dittrich vom 3. 1. bis zum 4.1. in der Wohnung vermutlich verändert, beschädigt oder vernichtet, insbesondere am eigentlichen Ereignisort im Bad.“

„Es lagen zunächst keine Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden vor“, sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Michael Grunwald. „Als durch Angehörige Zweifel an einer Selbsttötung geäußert wurden, haben die Kriminalbeamten sofort umfangreiche Maßnahmen ergriffen. Die Ermittlungen haben diese Zweifel bisher nicht bestätigt.“

Am 9. Januar wurde der Tote im Institut für Rechtsmedizin der Charité obduziert. Das Ergebnis war für die beiden Ärzte eindeutig: Keine Hinweise auf Mord. Der Speichelabgang, die Hirnschwellung, die Einblutungen im Halsbereich würden auf „vitales Erhängen zu Lebzeiten“ hinweisen. Keine Griffspuren im Gewebe, keine Verletzungen, die auf Gewalt hindeuten. Anhand der Strangulationsspuren am Hals konnten die Rechtsmediziner ablesen, dass Sebastian nicht getötet und dann aufgehängt wurde. Es könne „von einem Erhängen in suizidaler Absicht ausgegangen werden“.

Die Mutter hat einem Anwalt zweihundert Euro bezahlt, um Einsicht in die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft zu beantragen. Aber auch er kann nichts anderes als Suizid erkennen: „Angehörige suchen nun einmal nach Erklärungen und fragen sich, warum ihr Kind nichts gesagt hat“, sagt er. Die Staatsanwaltschaft sagt, dass sich oft Mütter einfach nicht mit den Tatsachen abfinden können, dass Hinterbliebene und die Ermittlungsbehörden verschiedene Blickwinkel haben. Hinterbliebene zweifeln, solange aus ihrer Sicht der Suizid nicht bewiesen ist. Die Ermittler suchen aber nur nach Anhaltspunkten für Fremdverschulden.

Wie gut kannte Gabriele Dittrich ihren Sohn wirklich?

Gabriele Dittrich zögert einen Augenblick. Sie zuckt kaum merklich mit den Schultern. Ein Mundwinkel zittert. Dann erzählt sie, dass sie jetzt oft darüber nachdenkt, warum ihr Sebastian nie eine Liebesbeziehung mit einem Mädchen hatte. Lange dachte sie, dass sich Sebastian einfach nur auf das Studium konzentrieren wollte und keine Lust auf Ärger und Liebeskummer hatte. Aber irgendwann hat er einmal zu ihr gesagt, er glaube, dass er „asexuell“ sei. Deshalb war er sogar beim Psychologen, sagt die Mutter. Der meinte, dass ihn der frühe Tod seines Vaters in seiner Entwicklung zurückgeworfen habe aber ansonsten alles normal sei. Sein Freund Karl behauptet, Sebastian sei homosexuell gewesen, er habe erst spät sein Coming Out gehabt. Seine Mutter erinnert sich, dass Sebastian im vergangenen Oktober wegen Haarausfalls zum Hautarzt gegangen sei und der ihm Hormontabletten verschrieben habe. „Vielleicht hat sich dadurch irgendwas an seinem Hormonhaushalt verändert.“ Hormontabletten. Es fällt Gabriele Dittrich schwer, ihren Sohn so zu sehen, wie sie ihn nicht kannte.

Das letzte Mal haben sie am Computer per ICQ-Chat kommuniziert, am Neujahrstag, wenige Stunden vor seinem Tod. Da tauschten sie ihre Erlebnisse aus der Silvesternacht aus. Um 14.11 Uhr schrieb Sebastian seiner Mutter die letzte Nachricht: „ich glaub, ich werde mir heute ganz faul spaghetti mit tomatensoße machen!“ Dass er kurz vor seinem Tod offenbar Besuch hatte, schrieb er nicht. In seinem Wohnzimmer war die Couch ausgezogen und aufgebettet. Wer dort schlief, ist nicht bekannt. Die ermittelnden Kriminalbeamten haben es lediglich zur Kenntnis genommen.

Die Art, wie Sebastian zu Tode kam, gilt unter Suizidexperten als brutale Methode. „Das ist eine Methode, die relativ sicher zum Tod führt“, sagt Gerd Storchmann vom Verein „neuhland“, der ein Krisentelefon für suizidgefährdete junge Menschen betreibt. „Wer so vorgeht, der will sterben.“ Ein Suizid aus einer Kurzschlusshandlung kommt laut Storchmann manchmal vor „In der Regel gibt es aber Anzeichen, die man wahrnehmen kann. Das können Andeutungen in einem Gespräch sein oder abschiedsnahe Hinweise per SMS. Ein großes Alarmzeichen ist es, wenn jemand ihm lieb gewordene Sachen verschenkt. Wenn man den Menschen kennt, bekommt man das meist mit.“

Bei Sebastian hat niemand etwas mitbekommen.

Auch nicht Andreas M., einer seiner besten Freunde. Er ist 44 Jahre alt, ein Theologe, der in Charlottenburg bei einer Suchtberatung arbeitet und sich mit menschlichen Abgründen auskennt. Er sagt: „Als ich von seinem angeblichen Selbstmord gehört habe, war ich völlig ratlos.“ M., der mit seiner Brille und seinem Bärtchen ein bisschen Ähnlichkeit mit Sebastian Dittrich hat, lernte diesen im Jahr 2000 bei einer globalisierungskritischen Demo kennen. „Ich war begeistert, dass ein junger Mann so gebildet und interessiert sein konnte.“ Sie blieben in Verbindung, trafen sich einmal pro Woche in Kneipen zum Debattieren. Nachdem sein Freund im vorigen Jahr Praktikant bei einer Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus im sächsischen Pirna war, wurde er etwas ernster, sagt er. „Sebastian war beeindruckt, wie tief die rechtsextreme Ideologie dort schon Fuß gefasst hatte. Er hat seinen Elfenbeinturm verlassen und das wahre Leben kennen gelernt. Er wurde nicht schwermütig, aber nachdenklich.“ Und noch aktiver wurde er. „Für ihn gab es vor allem Politik, politische Arbeit und das Studium. Entweder hat Sebastian eine riesige Fassade aufgebaut – oder ich habe ihn nicht wirklich gekannt. Wenn jemand zum Beispiel mit seiner sexuellen Identität nicht im Reinen ist, dann könnte das schon eine hohe destruktive Energie frei setzen“, sagt er. „Bei unseren Begegnungen wurde dies immer ausgeblendet. Ich dachte immer, er habe sich auf seine Karriere konzentriert. Aber jemand wie Sebastian hätte deshalb nicht gleich mit seinem Leben Schluss gemacht.“

Er erinnert sich, dass Sebastian von der Mutter wegziehen wollte in eine eigene Wohnung irgendwo in der Stadtmitte. Dass er sagte, er wolle selbstständiger werden.

Dem Freund hat Sebastian viel Privates anvertraut. Zum Beispiel, dass sein Vater Offizier bei der Staatssicherheit war. „Sebastian hat immer ambivalent über ihn gesprochen. Er kannte einen Vater vor und einen Vater nach der Wende. Ich glaube, dass er ihn als kleiner Junge bewunderte. Nach der Wende hat er angefangen zu trinken. Das hat ihn angewidert“, sagt Andreas M. Der Vater soll im Osten Neonazis beobachtet haben. Sebastian habe ihm zugute gehalten, dass es immerhin keine Bürgerrechtler waren, die dieser observierte. Aber was er genau tat, bekam er nicht heraus. Die Stasi-Unterlagenbehörde verwehrte ihm Akteneinsicht. „Sebastian hat erzählt, dass der Vater auch nach dem Zusammenbruch der Stasi noch Neonazis beobachtete, bis er Alkoholiker wurde. Sebastian hat erzählt, dass er seinen Vater sogar einmal begleiten durfte“, sagt der Freund, der es interessant findet, dass auch der Sohn sich mit dem Thema Rechtsextremismus befasste.

„Ich stelle mir schon vor, dass das prägende Erfahrungen waren, dass er vielleicht unbewusst etwas weiterführen wollte, was der Vater nicht zu Ende brachte“, sagt Andreas M. „Und irgendetwas Positives will man ja an seinem Daddy auch erhalten, wenn man auch sonst nur Kritik für ihn übrig hat.“

Gabriele Dittrich wird einsilbig, wenn man sie nach ihrem verstorbenen Mann fragt. Sie sagt, dass sie nicht wisse, was er zu DDR-Zeiten genau getan habe. Nur, dass er bei den bewaffneten Organen gewesen sei und „dass er ein Zweihundertprozentiger“ war.

Drei Tage nach Sebastians Tod richtete Andreas M. im Internet einen Kondolenzblog ein. „Ich hatte die Hoffnung, dass diejenigen, die ihn kannten, etwas beitragen können zur Aufklärung dieses Falls.“ Im Kondolenzblog äußert ein Schreiber namens Jimbo die Theorie, dass es vielleicht ein Unfall war: „Angeblich ist ein Orgasmus am Rande des Erstickens am allerbesten.“ Es gebe ein paar Varianten, doch bei allen könne man einen tödlichen Fehler begehen, schreibt Jimbo. „Die Polizei ist meist sehr diskret über die Art der Auffindung, der Umgang mit Angehörigen ist fast immer rücksichtsvoll und meist lässt man sie im gnädigen Glauben, dass es halt ein Suizid war.“

Doch auch diese Version gilt nicht. Der Tote war vollständig bekleidet. Sperma wurde nicht gefunden.

Am 15. Februar stellte der ermittelnde Beamte der Polizeidirektion 2 in einem Abschlussbericht fest, dass ausgeschlossen werden könne, „dass der Sebastian Dittrich durch einen Unbekannten in die Schlinge gehangen worden ist“. Er bezieht sich auf das Obduktionsergebnis der Gerichtsmedizin vom 9. Januar. Abschließend nimmt er Stellung zu den Aussagen der Mutter und des Bruders: Ihren Hinweisen sei nachgegangen worden. „Die Annahme der Mutter, ihr Sohn hätte ihr ‘bestimmt‘ eine Nachricht zukommen lassen, wenn er einen Suizid geplant hätte, ist nach der Lebenserfahrung mit Suizidfällen unzutreffend.“ Auch die Aussagen des älteren Bruders werden von dem Beamten als „eindeutig hypothetisch“ eingestuft, „weil in den letzten Tagen im Leben des S. Dittrich weder seine Mutter noch sein Bruder bei ihm waren“.

Sebastian Dittrich hat ein Urnengrab, auf dem eine Christrose und ein Rhododendron wachsen. Der Stein, der seinen Namen trägt, ist ein Findling. Die Mutter hat ihn im Kreis Plön beisetzen lassen, wo sie jetzt mit dem älteren Sohn wohnt. Sie wollte Sebastian bei sich haben.

* Quelle Fotografie: http://www.flickr.com/photos/22756656@N05/2199545434/

* Quelle Artikel: https://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2008/1018/magazin/0001/index.html

18.10.2008, mit freundlicher Genehmigung des Autors hier im Kondolenzblog eingestellt.

4 Kommentare »

  1. […] Ich halte daher es für völlig überzogen Strafanzeige zu stellen. Hat man den Dialog gesucht um die Leute mal über Ihren Faux Pas aufzuklären? Nachdem, was ich über das Bündnis erfahren habe paßt dieses Verhalten eigentlich auch nicht zum Bündnis. Ist das Flugblatt wirklich von dem Bündnis oder nur eine Fälschung? Die Geschichte der Initiative hat auch etwas tragisches, betrachtet man z.B. den Tod von Sebastian Dittrich. […]

    Pingback von Ungerecht? Anzeige gegen das Spandauer Bündnis gegen Rechts! « Rincewind1964's Blog — Juni 2, 2010 @ 7:02 pm | Antworten

  2. Ich kannte Sebastian sehr gut und er hatte mir anvertraut das er eine geliebte habe ,als ich Ihn das letzte mal traf .

    Kommentar von Anonymous — Juli 10, 2011 @ 3:45 pm | Antworten

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