Das Internet verändert die Art, wie wir mit Menschen in Kontakt treten, ihnen Nahe kommen und wie wir uns wieder von ihnen entfernen. So hat das Internet auch meine Freundschaft zu Sebastian bestimmt. 1998 war das Jahr, in dem ich ihn kennen lernte – auch wenn ich ihn, wie so viele, zunächst nur unter dem Namen Schrippe kannte. Ich hatte damals, nach vielem Ach und Krach, meine Schullaufbahn abgebrochen. Vorzeitig, ohne einen Abschluss. Um all die damit einhergehenden, persönlichen Probleme zu vergessen, vergrub ich mich in Büchern, etwa in der Lektüre von Robert Jordans Fantasyreihe „Das Rad der Zeit“. Das Internet bot mir damals, lange vor World of Warcraft & Co, die Möglichkeit, meinen Eskapismus um eine soziale Dimension zu erweitern. Ich kreierte eine Internetseite: www.radderzeit.de, mit einem angeschlossenen Forum. Unter den ersten, die sich dort einfanden, war Schrippe. Dass dieser auch einiges zu verdrängen hatte, erfuhrt ich erst viel später von ihm. Ebenso wie Internetforen Realitätsüberdrüssigen aller Couleur als Fluchtburgen dienen – wie sie Sebastian sich in seiner Beschäftigung mit rechtsextremen Sektierern ja später zum Gegenstand seiner Untersuchungen machte – kann es umgekehrt auch einen geschützten Raum eröffnen, in dem für eine Weile eine Art „herrschaftsfreier Diskurs“, gelöst von sozialen Zwängen und Ängsten, möglich wird…
Doch diese Möglichkeit steht und fällt mit den Menschen, auf deren – zunächst virtuelle – Begegnung man sich einlässt. Ich hatte das unschätzbare Glück an diesem kritischen Punkt meiner persönlichen Entwicklung auf Schrippe zu treffen und mich von seinem glühenden intellektuellen und politischen Interesse anstecken zu lassen. Dank ihm wandelte sich das Forum, das eigentlich dem Austausch über mehr oder weniger triviale Literatur dienen sollte, zu einem Ort engagierter politischer Debatten – bis Schrippe für diese eigens ein Politik-Forum eröffnete, das in den folgenden Jahren immer reger frequentiert wurde. Daneben entwickelten wir einen engen persönlicher Kontakt über ICQ. Wir sahen uns schließlich zum ersten mal auf einem Treffen des „Rad der Zeit-Fanclubs“ 2000 in Hannover, das Interesse an dem eigentlichen Gegenstand dieses Clubs hatten wir dabei natürlich längst verloren. Sebastians anhaltende Ermutigungen halfen mir damals, mein durch die gescheiterte Schullaufbahn verlorenes Selbstvertrauen wiederzufinden. Schließlich begann ich, nachdem ich 2003 die mittlere Reife nachgeholt hatte, das Abendgymnasium zu besuchen, was mich zusammen mit meiner Arbeit stark in Anspruch nahm. Zudem erschien mir meine frühere Internetnutzung zunehmend als Suchtverhalten und ich begann die Foren und Chaträume, die ich früher frequentierte, zu meiden, wie der trockene Alkoholiker die Flasche.
Darunter litt, unglücklicherweise, auch der Kontakt zu Sebastian. Ich traf ihn jedoch noch einige Male in Berlin, zuletzt 2006, kurz bevor ich mit meinem Studium in Jena begann. Wir führten, wie immer, lebhafte Gespräche und ich lernte bei dieser Gelegenheit auch Zuppi kennen. Sebastian erzählte mir damals von seinen Studien, dem anstehenden Praktikum in Pirna und wir versprachen, uns während dieser Zeit zu treffen. Leider sollte es dazu nicht kommen, da wir wohl beide zu beschäftigt waren. Als ich ihm dann vor zwei Jahren zu seinem Geburtstag gratulierte, erhielt ich keine Antwort mehr. Er war damals seit einem Monat tot. Ich erinnere mich nicht, ob ich zwischenzeitlich noch einen Kontaktversuch unternahm. Vielleicht ist es gerade die ständige Möglichkeit der Kontaktes via Internet, die uns diesen leichtfertiger vernachlässigen lässt. Vielleicht suche ich nach einer Ausrede. Fest steht, dass es ein leichtes gewesen wäre, von seinem Tod zu erfahren und ich doch erst heute, an seinem 29. Geburtstag davon erfuhr.
Nie wieder, habe ich mir heute geschworen, möchte ich eine Freundschaft in einer solchen Weise vernachlässigen. Nicht weil ich mir einbilde, dass ich irgendetwas an dem Geschehenen hätte ändern können. Sondern weil mir schmerzlich bewusst geworden ist, dass uns nur eine sehr begrenzte Zeit gegeben ist – und dass diese Zeit verloren ist, wenn wir sie nicht mit- und füreinander verbringen. Sebastian bedurfte einer solchen Einsicht nicht. Denn es war, bei aller intellektuellen Abenteuerlust, vor allem menschliche Sensibilität, die sein politisches Engagement geleitet hat – in einer Welt, in der er zu viele Ideologien und Vorbehalte und zu wenig Kritik und Gerechtigkeit sah. Und auch wenn sein Aufenthalt in ihr zu kurz bemessen war, will ich mich doch denen anschließen, die bezeugen, dass er sie uns, wo es in seiner Macht stand, als eine ein klein wenig bessere zurückgelassen hat. Ich danke Dir, Sebastian, dass ich Dich kennen durfte.